Wie wir altern | Von Maike Skerstins

Marathon mit 83 – Wie sich der Sport verändert

Der Greis mit dem Krückstock; die häkelnde Oma im Schaukelstuhl – längst ist das Klischee überholt. „Die Alten“ gibt es nicht mehr. Zwar werden die Menschen immer älter, aber sie bleiben auch gleichzeitig länger fit. Forscher sprechen in diesem Zusammenhang vom sogenannten Megatrend „Silver Society“ (übersetzt: silberne Gesellschaft). Dass die Zahl der älteren Bürger und Bürgerinnen auch in Heilbronn zunimmt, verdeutlicht ein Blick ins kommunale Melderegister. Gab es vor gut dreißig Jahren noch 4.667 Bürger, die 80 Jahre und älter waren, hat sich die Zahl im Jahr 2020 auf 8.726 nahezu verdoppelt (87 Prozent). Im selben Zeitraum stieg die Zahl der Neugeborenen hingegen nur um knapp fünf Prozent.
Der Extremsportler Werner Broß trainiert fünfmal in der Woche und legt dabei bis zu 100 Kilometer Laufstrecke zurück.

Die Heilbronner werden also älter. Aber wie steht es um die Fitness? Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts forsa, die die AOK Baden-Württemberg in Auftrag gegeben hat, sind 70 Prozent von 1.002 Baden-Württembergern im Alter von 30 bis 55 Jahre davon überzeugt, dass sie im hohen Alter noch immer über eine gute Fitness und Gesundheit verfügen werden. Ein entscheidender Faktor dafür ist neben der Ernährung auch Sport.

 

„Bewegen ist das A und O. Wenn es gar nicht mehr geht, dann sollte man zumindest einen Spaziergang machen oder Schwimmen gehen. Und auf jeden Fall durchziehen und es nicht nur als Eintagsfliege betrachten“, sagt Werner Broß aus Gemmingen. Der Extremsportler läuft nicht nur Marathons, sondern auch Ultramarathons, die länger als die Marathondistanz von 42,195 Kilometern sind. Das allein klingt schon ungewöhnlich, was aber noch zu erwähnen ist: Werner Broß ist fitte 83 Jahre. An die 50 bis 60 Mal war er bereits Baden-Württembergischer Meister; ebenso viele Marathons ist er gelaufen. Siege, die er nicht zählt, es gehe ihm einfach ums Laufen, wie der bescheidene Sportler verrät. „Ich trage meine Gewinne nicht groß nach draußen, aber ein ganz besonderes Highlight war für mich, dass ich vor vier Jahren auf der Weltrangliste über 50 Kilometer im Sechsstunden-Lauf auf Platz eins war.“

Seinen ersten Marathon lief der 83-Jährige erst im Alter von 60 Jahren. Da stellt sich die Frage: Wieso erst so spät? „Vorher hatte ich keine Zeit gehabt. Da konnte ich nur im Urlaub oder am Wochenende laufen, für einen Marathon hätte es aber nicht gereicht. Also habe ich mir vorgenommen meinen ersten Marathon zu laufen, wenn ich in den Ruhestand gehe.“ Schon als Kind war der jahrelange Vorstandvorsitzende einer Bank fasziniert vom Laufen. Eines, wie er sagt, sei klar: „Wenn einer mit 40 oder 50 Jahren mit dem Laufen anfängt, dann wird er das auch noch im hohen Alter machen. Aber im hohen Alter selbst fangen die Leute nicht mehr damit an.“

Eine Herausforderung für Vereine ist es, Kinder bereits im frühen Alter für Sport zu begeistern. Dann besteht die Chance, dass die jungen Mitglieder auch noch im späteren Alter aktiv sind. Bei der TSG 1845 Heilbronn e.V. sind ein Drittel der 6.200 Mitglieder unter 18 Jahren. „Im Jahr 2020 waren das noch 28 Prozent. Das liegt vor allem am ständigen Ausbau unserer Kindersportangebote“, wie Geschäftsführer Marcel Hetzer mitteilt. Aber auch auf die älteren Mitglieder hat die TSG ihren Blick gerichtet. „Knapp 1.500 Personen in unserem Verein sind über 60 Jahre alt.“ Es treten derzeit zwar im Verhältnis zu den Kindern weniger fitnesswillige Senioren ein, aber älter werden die zufriedenen Mitglieder automatisch. Der Verein ist sich der Herausforderungen bewusst, die eine älterwerdende Gesellschaft mit sich bringt. „Die Bereiche Gesundheitssport, Rehabilitationssport und Prävention werden zunehmend wichtig; das Angebot dahingehend laufend erweitert. Ebenso wird die Barrierefreiheit der Sportstätten immer wichtiger“, weiß Marcel Hetzer. Darüber hinaus werde der Reha-Bereich „kontinuierlich auf die neuen, aber auch bekannten Krankheitsbilder und Krankheitsverläufe angepasst und ausgebaut“. In der medizinischen Trainingstherapie wird beispielsweise gezielt in kleinen Gruppen „an den individuellen Defiziten, die das Alter mit sich bringt, gearbeitet“.

Auch Werner Broß merkt so langsam das Alter. „Man will jedes Jahr dieselbe Leistung bringen, aber das geht halt nicht mehr. Wenn man die Zeit von einem Zehnkilometer-Lauf verglichen mit dem Lauf aus dem Vorjahr halten kann, dann ist das gut. Aber meistens wird man eine halbe Minute langsamer.“ Er wisse, dass man mit 30 Jahre jüngeren Läufern nicht mehr mithalten könne, dennoch „juckt es“, wie er sagt, reibt sich die Hände und lacht spitzbübisch dabei. Der Sportler, der auch mal gerne den Weg zum Supermarkt als Laufstrecke nutzt, hat im November vergangen Jahres erneut einen großen Sieg eingeheimst. Beim Rennen „Ring Running Series“ auf dem Hockenheimring ist Broß nicht nur Altersklassensieger geworden, sondern hat auch den dritten Platz belegt. Die Veranstaltung fand an mehreren Wochenenden statt und beinhaltete einen Halbmarathon, einen Zehn-Kilometer-Lauf und einen Marathon. Aber wann ist mal genug? „Ich war jahrelang bei keinem Doktor. Wenn ich Leute in meinem Alter sehe, die im Altersheim sind oder im Rollstuhl sitzen, da denke ich mir: Da laufe ich lieber täglich nochmal zehn oder zwanzig Kilometer, bevor ich zum Doktor renne.“ Immer laufen, sich bewegen, rät Werner Broß seinen Altersgenossen. „Wenn ich die Leute mit dem Wägelchen sehe, das sie schieben; das ist ganz toll sowas. Das hat es früher ja gar nicht gegeben.“

Werner Broß´ Rat wird schon seit sechs Jahren in Bad Wimpfen beherzigt. „Raus aus dem Sessel und ran an den Rollator“, heißt es jeden Donnerstag in der Stauferhalle, wenn die Rollator-Sportgruppe des Turnvereins ihr Workout durchzieht. Die 13 Teilnehmer laufen dabei nicht einfach nur im Kreis herum. „Der Rollator eignet sich sehr gut als Sportgerät; wir können mit ihm sogar tanzen“, berichtet Ingrid Herbst. Die 69-jährige Übungsleiterin und ihre beiden Kollegen achten beim Training sehr darauf, die Senioren im Alter von 50 bis 92 Jahren auch an ihre Grenzen zu bringen. „Sturzprävention zu üben, ist sehr wichtig“, wie sie sagt. Das Gehen über unstabile Untergründe wie Rasen oder Schaumgummimatten trainiere vor allem das Gleichgewichtsgefühl und die Sicherheit im Umgang mit dem Rollator, weiß Ingrid Herbst. „Am Ende der Turnstunde machen wir dann auch immer Sitzfußball, da machen alle sehr gerne mit.“ Die Turngruppe in Bad Wimpfen ist ein Vorreiter, was den Rollator-Sport angeht. Viele, wie die Übungsleiterin erzählt, kennen die Art des Sports überhaupt nicht. Umso mehr hofft sie auf Nachahmer.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Wer lange fit bleiben möchte, sollte sich viel bewegen und möglichst gesund ernähren – an sich kein Geheimrezept. Viel mehr kommt es auf die Angebote an, und vor allem auf Personen, die andere zum Nachahmen und Mitmachen motivieren. Dafür braucht es Menschen, die ihr Wissen weitergeben möchten. Werner Broß sieht genau darin seine Chance, Altersgenossen anzutreiben. Er könne sich sehr gut vorstellen, einen Vortrag über Fitness im Alter zu halten. In einer kleinen Runde, in der er Senioren Fragen zu Gesundheit und Ernährung beantwortet; eben ein Stück seiner Lebensphilosophie teilt.

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Zur Person

Werner Broß wurde 1939 in Sinsheim geboren. 2001 ging der Vorstandsvorsitzende einer Bank in den Ruhestand und widmete sich fortan ganz seiner Leidenschaft, dem Laufen. Der Vater zweier Kinder und Großvater zweier Enkelinnen kümmert sich auch mit viel Herz um die Kinder in der Nachbarschaft, indem er ihnen bei den Hausaufgaben hilft. Als 2016 Flüchtlinge aus Syrien in Gemmingen ankamen, sah Werner Broß ebenfalls eine Chance, sich einzubringen. Er packte seine ausrangierten Laufschuhe aus und steckte sie in die Waschmaschine. „Nach 1.000 Kilometern ist zwar die Dämmung nicht mehr für einen Marathon geeignet, aber der Schuh an sich ist noch top.“ Kurzerhand stellte er dann ein Sportprogramm für die neuen Nachbarn auf die Beine und überreichte ihnen auf dem Sportplatz an die 30 Paar Schuhe.
Augenzwinkernd verrät der Extremsportler noch, dass auch er nicht immer so konsequent ist. „Bei mir gibt es grundsätzlich kein Nikotin, kein Alkohol, kein Dopingmittel und keine Drogen. Nur ein Laster habe ich und das sind Süßigkeiten, vor allem Schokolade.“